Audio: Ein politischer Mord
Video: Historiker:innen ergänzen
Weshalb kam es 1847 zum Sonderbundskrieg?
Gespaltene Eidgenossenschaft
Aufhebung der Klöster im Aargau
Das Freiamt wurde im liberalen Aargau als «schwarzer Erdteil» tituliert. Gemeint war damit der Katholizismus. Die Klöster Muri und Engelberg waren jahrhundertelang allmächtig. Als 1840 die Aargauer Kantonsverfassung die Parität zwischen den christlichen Konfessionen nicht mehr garantierte, drohte ein bewaffneter Aufruhr der Freiämter Katholiken. Die Radikal-Liberalen warfen den Klöstern vor, sie steckten dahinter. Anfang 1841 beschloss daher der Aargauer Grosse Rat, die Klöster aufzuheben und die Mönche und Nonnen zu vertreiben. Die Katholiken waren bestürzt. Wie konnte es dazu kommen?
1830–1833 Polarisierung
Die Liberalen wollten seit der Aufklärung und der Helvetischen Republik von 1798 die Eidgenossenschaft modernisieren. Unterschiedlich radikal forderten sie einen Staat mit Volkssouveränität, Grundrechten und Gewaltenteilung, der auf einer Verfassung basierte. Dagegen kämpften die Konservativen. Sie wollten ihre Traditionen bewahren. Seit 1815 lebten sie wieder dem Ancien Régime (Restauration) nach. Ab 1830 setzten sich aber in mehreren Kantonen die Liberalen durch (Regeneration). In Basel führte dieser Vormachtsstreit 1833 beispielsweise zur Teilung in zwei Halbkantone.
1834–1841 Konfessionalisierung
Reformierte waren vorwiegend liberal, Katholiken meist konservativ. Die katholische Kirche wollte sich nicht dem Staat unterstellen. Radikal-Liberale beschuldigten die Klöster, sie seien staats- und bildungsfeindlich. Liberale Kantone proklamierten in Baden 1834 eine staatliche Kirchenaufsicht. Die Katholiken empfanden dies als Bedrohung, die Klosteraufhebung von 1841 erzürnte sie zusätzlich. Das Konfessionelle war nun auch Teil der Grundsatzdiskussion über die künftige Staatsform der Eidgenossenschaft: Wird sie ein Einheits- oder Bundesstaat oder bleibt es beim Staatenbund souveräner Kantone?
1842–1845 Radikalisierung und Gewalt
Der liberale Vorort Luzern gab sich 1841 eine kirchenfreundliche Verfassung. Langsam kippten die Mehrheitsverhältnisse in der Eidgenossenschaft der 22 Kantone. Luzern führte nun das konservative Lager an. Die eidgenössische Tagsatzung schaffte es bis 1843 nicht, gegen die Aargauer Klösteraufhebung vorzugehen, was das konservative Lager ernüchterte. Als Luzern 1844 die bei den Radikalen verhassten Jesuiten berief, eskalierte der Konflikt.
Zwei radikal-liberale Freischarenzüge versuchten Ende 1844 und im März 1845 erfolglos, die Luzerner Regierung zu stürzen. Beim zweiten Zug gab es 120 Tote. Beteiligt waren auch Aargauer, Solothurner und Berner. Das Freiamt war kaum involviert. Hier bewegte ein Mord mehr: Ein radikaler Bauer hatte den frommen konservativen Luzerner Grossrat Joseph Leu erschossen. Als Ende 1845 sieben katholisch-konservative Kantone einen «Schutzverein» gründeten, sympathisierten viele im Freiamt mit diesem «Sonderbund», obschon der Aargau ein liberaler Kanton war.
1847 Entscheiden soll ein Krieg
Die Lage spitzte sich zu. Im Januar ernannte der Kriegsrat Johann Ulrich von Salis Soglio zum General des Sonderbunds. Erst im Sommer forderte eine Tagsatzungsmehrheit, den Sonderbund aufzulösen. Und im Herbst verlangte sie die Ausweisung der Jesuiten. Im Oktober organisierten die Tagsatzungskantone ihre Truppen, worauf der Sonderbund die seinen mobilisierte. Vermittlungsversuche scheiterten. Als General der Tagsatzung wurde Guillaume Henri Dufour gewählt. Vom 3. bis 29. November kämpften Tagsatzungs- gegen Sonderbundstruppen. Der Krieg forderte rund 100 Tote und 500 Verwundete.
1848 Föderalistisch-repräsentative Demokratie
Im Frühjahr erarbeitete eine Kommission mit je einem Delegierten aus jedem Kanton in 51 Tagen eine Bundesverfassung. Am 12. September 1848 nahm sie eine Mehrheit der Kantone an: Der schweizerische Bundesstaat war gegründet.
Nachweise und Literaturtipps
Aargauer Zeitung, Widmer Toni, Der Schwarze Erdteil ist nicht mehr orange: «Freiämter Schattenkabinett» feiert grosses Jubiläum, 8.5.17:
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/freiamt/der-schwarze-erdteil-ist-nicht-mehr-orange-freiamter-schattenkabinett-feiert-grosses-jubilaum-ld.1424417 .
Borner Heidi, Im Spannungsfeld von Politik und Religion. Der Kanton Luzern 1831-1875, Bd. 1, Basel 2008.
Constitutio, Alle Artikel der Bundesverfassung als Bewegtbilder der Schweiz: https://vimeo.com/showcase/constitutio-de.
Die Erfindung der Schweiz 1848-1998. Bildentwürfe einer Nation. Katalog zur Sonderausstellung des Schweizerischen Landesmuseums Zürich zum 150-jährigen Bestehen des Schweizerischen Bundesstaates und zum 100-Jahr-Jubiläum des Museums, Zürich 1998.
Gemeinde Sins, Kirchgemeinden: https://www.sins.ch/leben/freizeit/kirchgemeinden.html/181.
Heinrich Staehlin, Die Geschichte des Kantons Aargau, Bd. 2, Baden 1978.
Hildebrand Thomas, Tanner Albert (Hrsg.), Im Zeichen der Revolution. Der Weg zum Schweizerischen Bundesstaat, 1798-1848, Zürich 1997.
Historische Gesellschaft Freiamt, Aufhebung des Klosters Muri vor 175 Jahren, in: Unsere Heimat, Sammelband, Jahresschrift der Historischen Gesellschaft Freiamt, 83. Jahrgang, 2016: https://www.geschichte.kloster-muri.ch/sites/default/files/files/sandmeier_regli_2016.pdf.
HLS, Bundesverfassung: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2011-05-03/.
Lang Josef, Meier Pirmin, Kulturkampf. Die Schweiz des 19. Jahrhunderts im Spiegel von heute, Baden 2016.
Lötscher Thomas, Demokratie mit Zukunft. Die Erschaffung der modernen Schweiz, Thun/Gwatt 2022.
SRF, Tandem: vom Schwarzen Erdteil in die weite Welt, vom 20.8.17: https://www.srf.ch/audio/kontext/tandem-vom-schwarzen-erdteil-in-die-weite-welt?id=11158767.
SRF, Zeitblende, Mathys Barbara, Augustin Keller – Revolutionär für den Bundesstaat, 4.4.23, https://www.srf.ch/audio/zeitblende/augustin-keller-vom-aargauer-klosterstreit-zum-bundesstaat?id=12365851.
Bildnachweise
Abb. 1: Kloster Muri-Gries in Gries, Zeichnung von Bruder Burkard-Küng-Mappe im HSB-Magazin, Inventar-Nr. B 281, Foto: Peter Daldos. Gesamtansicht Kloster Muri 1841.
Abb. 2: Wikipedia, Gemeinfrei, Martin Disteli, Zelotprediger 1834.
Abb. 3: © Illustrated London News/Mary Evans Picture Library, The Illustrated London News, 12.4.1845, Ausschnitt.
Abb. 4: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, PI_64-GR-0189, Familie Costantin Siegwart-Müller in Altdort, um 1843/46, Reproduktion 1964.
Abb. 5: Bucher Erwin, Die Geschichte des Sonderbundskrieges, Zürich 1966, Bildseiten, Ulrich Ochsenbein (1811-1890).
Abb. 6: Schweizerische Nationalmuseum, LM-72509, Vertreibung der Mönche und Nonnen aus den Klöstern Muri und Hermetschwil, um 1841.
Abb. 7: StALU PS 43A, Ermordung und Verklärung Joseph Leus 1845.
Abb. 8: Schweizerische Nationalbibliothek, Sitzung Tagsatzung 29.10.1848.
Abb. 9: Historisches Museum Luzern 7645, Fahne des Sonderbunds.
Abb. 10: meierkolb 2023, Abstimmung Bundesverfassung 1848, Inhalte aus: HLS, Bundesverfassung, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2011-05-03/
Abb. 11: Staatsarchiv Kanton Luzern, PL 5283/3, Jakob Müller von Stechenrain im Kanton Luzern, Mörder des sel. Herren Grossrath Jos. Leu von Unterebersoll, um 1845.
Abb. 12: Zentralbibliothek Zürich, e-rara, Die eidgenössische Arche, in: Gukkasten, 26. August 1841, Zentralbibliothek Zürich, https://www.e-rara.ch/zuz/periodical/zoom/27290227 .
Abb. 1: Die mächtige Barockanlage der ehemaligen Fürstabtei Muri (Wappen oben rechts), die umfangreicher war als jene des Klosters Einsiedeln. Sie verkörperte im Aargau alles, was der radikale Liberalismus seit den 1830er Jahren an der Kirche und deren Einfluss so heftig kritisierte.
Abb. 2, links: Die radikal-liberale Propaganda stellt die Jesuiten als Projektionsfläche für alles Böse dar. Sie werden als teuflische Aufhetzer der schlichten und frommen Katholiken karikiert, die ihnen hörig sind.
Abb. 3, rechts: So nahm das Ausland den Konflikt wahr. In England wurde der blutige zweite Freischarenzug vom März 1845 gegen die Regierung in Luzern auf spektakuläre Art als Bürgerkrieg nachgezeichnet.
Köpfe der gegensätzlichen Ideologien
Abb. 4, links: Constantin Siegwart-Müller (1801–1869) war ein katholischer Politiker, Rechtsanwalt und Redaktor. Zuerst noch freisinnig-radikal, brach er Ende der 1830er Jahre mit dem Liberalismus und schloss sich der katholisch-konservativen Bewegung von Joseph Leu in Luzern an. Diese war durch einen romtreuen politischen Katholizismus gekennzeichnet (Ultramontane). Daraufhin wurde er von der liberalen Regierung als Staatsschreiber entlassen. In Kanton (Regierungsrat) und Bund (als Luzerner Schultheiss 1843/44 mit Vorsitz der Tagsatzung) zeigte er sich als dominierender konservativer Politiker. Reaktionär verfolgte er eine Politik der Konfrontation mit den Liberalen. Sein Ziel war eine Neuordnung der Schweiz in zwei konfessionelle Blöcke, wobei der katholische die Vormacht haben sollte. Siegwart-Müller war im Sonderbundskrieg Präsident des Kriegsrates, setzte sich nach dem Sieg der Tagsatzungsarmee nach Uri ab und floh ins Ausland. Er kehrte 1857 in die Schweiz zurück, lebte in Altdorf und verfasste Schriften über die Sonderbundszeit.
Abb. 5, rechts: Ulrich Ochsenbein (1811–1890) war ein Berner Rechtsanwalt, Militär, Politiker und Wegbereiter der schweizerischen Bundesverfassung. Er führte als heissblütig-radikaler Liberaler den zweiten Freischarenzug von 1845 an und stand neben Jakob Stämpfli (1820–1879) an der Spitze der Berner Radikalen. Als Schultheiss des Vororts Bern war er 1847 Präsident der Tagsatzung und an den Beschlüssen zur Auflösung des Sonderbundes massgeblich beteiligt. Im Sonderbundskrieg führte er eine Reservedivision. Im Bundesstaat von 1848 wurde er einer der ersten Bundesräte und übernahm das Militärdepartement. 1854 wurde er nicht mehr gewählt. Zunehmend wandte sich Ochsenbein vom radikalen Liberalismus ab und gehörte 1882 zu den Mitgründern der Konservativen bernischen Volkspartei.
Abb. 7: Die konservative Propaganda verklärte 1845 die Ermordung des Luzerner Grossrats Joseph Leu: Der Mörder wird durch Kleidung und typische Mütze als liberaler Freischärler dargestellt.
Abb. 8: Letzte Sitzung der eidgenössischen Tagsatzung, 29. Oktober 1847 unter dem Vorsitz von Ulrich Ochsenbein. Die Gesandten der sieben katholisch-konservativen Kantone verlassen die Sitzung.
Abb. 9: Eine Fahne der sonderbündischen Landsturmkompanie Willisau-Land. Die religiöse Dimension des Krieges wird deutlich: Die Gottesmutter in Gestalt der «Maria vom Siege» wird um Fürbitte gebeten.
Tafeltexte & Bilder
Nachweise und Literaturtipps
Aargauer Zeitung, Widmer Toni, Der Schwarze Erdteil ist nicht mehr orange: «Freiämter Schattenkabinett» feiert grosses Jubiläum, 8.5.17:
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/freiamt/der-schwarze-erdteil-ist-nicht-mehr-orange-freiamter-schattenkabinett-feiert-grosses-jubilaum-ld.1424417 .
Borner Heidi, Im Spannungsfeld von Politik und Religion. Der Kanton Luzern 1831-1875, Bd. 1, Basel 2008.
Constitutio, Alle Artikel der Bundesverfassung als Bewegtbilder der Schweiz: https://vimeo.com/showcase/constitutio-de.
Die Erfindung der Schweiz 1848-1998. Bildentwürfe einer Nation. Katalog zur Sonderausstellung des Schweizerischen Landesmuseums Zürich zum 150-jährigen Bestehen des Schweizerischen Bundesstaates und zum 100-Jahr-Jubiläum des Museums, Zürich 1998.
Gemeinde Sins, Kirchgemeinden: https://www.sins.ch/leben/freizeit/kirchgemeinden.html/181.
Heinrich Staehlin, Die Geschichte des Kantons Aargau, Bd. 2, Baden 1978.
Hildebrand Thomas, Tanner Albert (Hrsg.), Im Zeichen der Revolution. Der Weg zum Schweizerischen Bundesstaat, 1798-1848, Zürich 1997.
Historische Gesellschaft Freiamt, Aufhebung des Klosters Muri vor 175 Jahren, in: Unsere Heimat, Sammelband, Jahresschrift der Historischen Gesellschaft Freiamt, 83. Jahrgang, 2016: https://www.geschichte.kloster-muri.ch/sites/default/files/files/sandmeier_regli_2016.pdf.
HLS, Bundesverfassung: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2011-05-03/.
Lang Josef, Meier Pirmin, Kulturkampf. Die Schweiz des 19. Jahrhunderts im Spiegel von heute, Baden 2016.
Lötscher Thomas, Demokratie mit Zukunft. Die Erschaffung der modernen Schweiz, Thun/Gwatt 2022.
SRF, Tandem: vom Schwarzen Erdteil in die weite Welt, vom 20.8.17: https://www.srf.ch/audio/kontext/tandem-vom-schwarzen-erdteil-in-die-weite-welt?id=11158767.
SRF, Zeitblende, Mathys Barbara, Augustin Keller – Revolutionär für den Bundesstaat, 4.4.23, https://www.srf.ch/audio/zeitblende/augustin-keller-vom-aargauer-klosterstreit-zum-bundesstaat?id=12365851.
Bildnachweise
Abb. 1: Kloster Muri-Gries in Gries, Zeichnung von Bruder Burkard-Küng-Mappe im HSB-Magazin, Inventar-Nr. B 281, Foto: Peter Daldos. Gesamtansicht Kloster Muri 1841.
Abb. 2: Wikipedia, Gemeinfrei, Martin Disteli, Zelotprediger 1834.
Abb. 3: © Illustrated London News/Mary Evans Picture Library, The Illustrated London News, 12.4.1845, Ausschnitt.
Abb. 4: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, PI_64-GR-0189, Familie Costantin Siegwart-Müller in Altdort, um 1843/46, Reproduktion 1964.
Abb. 5: Bucher Erwin, Die Geschichte des Sonderbundskrieges, Zürich 1966, Bildseiten, Ulrich Ochsenbein (1811-1890).
Abb. 6: Schweizerische Nationalmuseum, LM-72509, Vertreibung der Mönche und Nonnen aus den Klöstern Muri und Hermetschwil, um 1841.
Abb. 7: StALU PS 43A, Ermordung und Verklärung Joseph Leus 1845.
Abb. 8: Schweizerische Nationalbibliothek, Sitzung Tagsatzung 29.10.1848.
Abb. 9: Historisches Museum Luzern 7645, Fahne des Sonderbunds.
Abb. 10: meierkolb 2023, Abstimmung Bundesverfassung 1848, Inhalte aus: HLS, Bundesverfassung, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2011-05-03/
Abb. 11: Staatsarchiv Kanton Luzern, PL 5283/3, Jakob Müller von Stechenrain im Kanton Luzern, Mörder des sel. Herren Grossrath Jos. Leu von Unterebersoll, um 1845.
Abb. 12: Zentralbibliothek Zürich, e-rara, Die eidgenössische Arche, in: Gukkasten, 26. August 1841, Zentralbibliothek Zürich, https://www.e-rara.ch/zuz/periodical/zoom/27290227 .